Montag, 14.01.08 - 20 Uhr Lesung in der Galerie am Domplatz
mit Edgar Hilsenrath und Verleger Volker Dittrich

   

Sein Leben:
Edgar Hilsenrath wurde am 2.4.1926 in Leipzig geboren.
1928 zog seine Familie mit ihm nach Halle.
Flucht 1938 kurz vor der Reichspogromnacht 1938 nach Rumänien.
1941 Deportation in ein Ghetto in der Ukraine.
1945-47 Palästina und 1951 Emigration nach New York.
1975 Rückkehr in die BRDeutschland.

Die Lesung:
Edgar Hilsenrath wird von seiner Kindheit in Halle, der Flucht über Jugoslawien in die Bukowina und sein Leben dort erzählen. Sein Verleger Volker Dittrich liest aus seinem Buch "Nacht" über das Leben und Sterben im Ghetto in der Ukraine.

Nacht (aus dem Einbandtext):
Nacht ist der erste Roman Edgar Hilsenraths, er schildert in erschütternder Form den überlebenskampf zweier junger Menschen in einem rumänischen Ghetto. Das Buch war ebenso wie Hilsenraths zweiter Roman "Der Nazi & der Friseur" ein Welterfolg und muss, wie Andreas Graf in der Deutschen Vierteljahresschrift für Literaturwissenaft und Geistesgeschichte betonte, »unter die bedeutendsten Werke der deutschen Nachkriegsliteratur« gerechnet werden.
In Dantes Inferno geht es nicht höllischer zu. Zum Wolf gewordene Menschen schlagen sich für eine verfaulte Kartoffel, kämpfen brutal und gerissen um einen elenden Schlafplatz. Ein Jude aus Deutschland beschreibt so, was er als Halbwüchsiger im Zweiten Weltkrieg in einem rumänischen Ghetto erlebt hat.

Holger Dauer - Hilsenrath zum 80. Geburtstag:

"Hat der liebe Gott nicht die Unschuld erfunden, damit sie zertreten wird ... hier auf Erden?" Das düstere Resümee, das sich hinter der rhetorischen Frage versteckt, stammt aus einem der eigenwilligsten und bedeutendsten Romane der Nachkriegsliteratur: "Der Nazi & der Friseur", 1970 in den USA erschienen, wurde zu einem Welterfolg, in Deutschland freilich wollte ihn lange Zeit keiner lesen, erst 1977 fand sich ein kleiner Kölner Verlag, der das ungewöhnliche Buch herausbrachte.

Es ist die bizarre Geschichte des SS-Oberscharführers und Massenmörders Max Schulz, der sich nach dem Krieg die Identität seines im KZ ermordeten jüdischen Jugendfreundes Itzig Finkelstein überstülpt, nach Palästina ausreist und dort mit Leidenschaft am Aufbau des israelischen Staates mitwirkt, am Schluss dennoch von der Vergangenheit eingeholt wird und schließlich an jener Angst zugrunde geht, die er einst seinen Opfern eingejagt hatte. Der antisemitische Schlächter als jüdischer Patriot, der Täter, der sich als Opfer aufspielt, teuflisch in seiner mediokren Lächerlichkeit, banal in seiner mörderischen Dämonie - ein solches kleinbürgerliches Monster zum Romanhelden zu erheben, dessen verwerflichen Erlebnisse überdies mit kreischendem Humor dargeboten werden - das musste hierzulande befremden, widersprach jeder, aber auch wirklich jeder politischen Korrektheit.

Urheber der Provokation: Der Schriftsteller Edgar Hilsenrath. Dessen Leben gleicht einer abenteuerlichen, unwirklich anmutenden Odyssee, außergewöhnlich, einzigartig und doch auch exemplarisch für die geschundenen, entrechteten Protagonisten des 20. Jahrhunderts. Am 2. April 1926 wird er als Sohn eines jüdischen Kaufmanns in Leipzig geboren. Die Schulzeit verbringt er in Halle an der Saale, als einziges jüdisches Kind in seiner Klasse. 1938, kurz vor den Pogromen des 9. November, wird er mit Mutter und Bruder in die Bukowina zu den Großeltern geschickt, während der Vater in Frankreich untertaucht.

Als in Rumänien die Faschisten die Macht übernehmen, wird es für den jungen Hilsenrath lebensbedrohlich. Er flieht, wird aber im Oktober 1941 in ein ukrainisches Getto deportiert, wo Hunger, Kälte und Typhus herrschen. Die Russen befreien zwar das Lager im April 1944, verhaften aber trotzdem alle jungen Männer, weil sie Arbeitskräfte für die Kohlengruben im Donezbecken brauchen. Hilsenrath kann sich erneut davonmachen, geht zu Fuß zurück nach Rumänien, wandert dann über den Landweg nach Palästina aus, wo er als Tellerwäscher, später als Feldarbeiter in einem Kibbuz arbeitet. Eine innere Beziehung zum entstehenden israelischen Staat will sich allerdings nicht einstellen, er kommt mit der euphorischen Aufbaumentalität nicht zurecht, vermisst das urbane Umfeld und die intellektuellen Herausforderungen.

Nach zwei Jahren fährt er nach Frankreich, wo er seinen Vater wieder sieht, geht 1951 nach New York und schlägt sich dort als Laufbursche und Kellner durch, während er an seinem ersten Roman "Nacht" schreibt. Über zwanzig Jahre bleibt er in den USA, 1975 entschließt er sich, nach Deutschland, nach Berlin zu gehen, wo er bis heute lebt.

Hilsenraths großes Thema ist die "groteske Seite des Holocaust", wie er selbst einmal in einem Interview bekannte. Seine Bücher - zu den bekanntesten gehören "Moskauer Orgasmus" (1979), "Fuck America. Bronskys Geständnis" (1980) und "Das Märchen vom letzten Gedanken" (1989) - sind erschütternde Zeugnisse meist selbsterlebter Schreckensszenarien, aufwühlende und zutiefst humane Erinnerungsdiskurse, die in einer teils überbetont nüchternen, oft aber anarchischen, enthemmten, zuweilen pornografischen Sprache die 'tausendjährigen' Verbrechen, die Hölle, die seelischen Wunden der Opfer, mithin die menschlichen Abgründe angesichts einer aus den Fugen geratenen, im eigentlichen Sinne 'ver-rückten' Welt ebenso plastisch wie erschreckend vor Augen führen. Dabei macht sein schriller Humor das Grauen, von dem erzählt wird, erträglich und - er potenziert es zugleich. Letztlich bleibt die bittere Erkenntnis, dass die "Schwachen und Wehrlosen" von den "Starken überrumpelt, niedergeknüppelt, vergewaltigt, verhöhnt" werden, wie es an einer Stelle in "Der Nazi & der Frisör" heißt. Und: "Ein Antisemit ist wie ein Krebskranker. Was zu tief verankert ist, kann man nicht mehr herausschneiden." Von Zukunftshoffnung zeugt dies nicht.

Obwohl das Werk allmählich ins literarische Bewusstsein sickert, nicht zuletzt dank der verdienstvollen Neuauflagen im kleinen Dittrich Verlag und der neuen Taschenbuchausgaben bei dtv: Edgar Hilsenrath, den entfesselten Erzähler zwischen ausuferndem Sprachtumult und unprätentiöser Lakonie, zwischen derbem Realismus und poetischer Verklärung - ihn gilt es nach wie vor zu entdecken.

Quelle: http://www.tour-literatur.de/Autoren_texte/hilsenrath.htm

Rezension des Buches "Nacht" in der Frankfurter Rundschau 1978
Rezension anlässlich der Auflage des Gesamtwerks von Edgar Hilsenrath im Dittrichs-Verlag bei shoa.de 2005
edgar-hilsenrath.de
dittrich-verlag.de

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